Ein neuer Trend scheint sich abzuzeichnen, was die Abhilfemöglichkeiten abseits der Aufhebung der Ausschreibung anbelangt – zum Beispiel die Situation, dass die ausschreibende Stelle nach Submission zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Leistungsverzeichnisse teilweise fehlerhaft gewesen sind.
In einer sehr aktuellen Entscheidung des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 12. 1. 2015, VII-Verg 29/14) wird ein Weg beschrieben, der insbesondere für das Bauvergabewesen gleichermaßen kreativ wie überraschend ist. Im Kern geht es darum, dass im Rahmen einer Ausschreibung in einem EU-weit offenen Verfahren, welche die Erweiterung eines Polizeipräsidiums betraf, nach Submission offenkundig wurde, dass die zugrunde gelegte Methode für den Verbau unzutreffend war und überdies zu einem unterschiedlichen Verständnis bei den teilnehmenden Bietern geführt hatte. Der Vergabesenat sieht in der Essenz dieser Entscheidung die Möglichkeit, von einer Aufhebung der Ausschreibung abzusehen und die fehlerhaften Massenvordersätze für die einzelnen Positionen durch die Bieter neu auszupreisen und anbieten zu lassen. Und schließlich soll dies Ganze auch im Wege der Zusendung von E-Mails geschehen können !
Im Einzelnen stellte sich nach Submission zwischen der Beigeladenen und der Antragstellerin ein Preisunterschied von in etwa 20.000,00 € bei einer Summe von 15,4 Millionen € heraus. Im Nachgang zu der Submission traten sodann die Irritationen darüber auf, dass die Bieter teils auf Basis der geringeren Sichtflächen für den Verbau, und teils auf der Grundlage der höheren Ausführungsflächen (statischen Flächen) des Verbaus kalkuliert hatten. Dieser Unterschied in den Mengensätzen bei der Kalkulation der Bieter führte – nach dem Vortrag der Beigeladenen – zu einer Differenz von circa 400.000,00 €. Die zweitplatzierte Antragstellerin machte geltend, dass sich im Vergleich zu den Mitbewerbern ihr Angebot um 400.000,00 € verteuert habe. Um die missliche Situation aufzulösen, schrieb die Vergabestelle alle Bieter an (per E-Mail), dass sie eine hinsichtlich der relevanten Positionen geänderte Kalkulation zu einem definierten Einreichungstermin vorlegen sollten. Dies stieß auf Widerstand der späteren Antragstellerin und führte letztendlich zu dem Vergabenachprüfungs- und Beschwerdeverfahren.
Der Düsseldorfer Vergabesenat stellt zunächst heraus, dass die DIN 18303 der Allgemeinen Technischen Vertragsbedingungen für Bauleistungen im Teil C der VOB (ATV) zwischen der
- Abrechnungsmodalität nach Sichtflächen (Flächenmaß nach Ziffer 5.1)
- und einer solchen statischen Flächen (Längenmaß nach Ziffer 5.2)
unterscheidet. Die genaue Abrechnungsmodalität gemäß dieser DIN 18303 muss in jedem Falle durch die Vergabestelle festgelegt werden, sodass insoweit vergleichbare Angebote vorliegen können. Dies vor allem deshalb, weil aus der DIN 18303 nicht automatisch auf einen vorrangig anzuwendenden Abrechnungsmodus geschlossen werden kann. Von dem OLG Düsseldorf für unstreitig gestellt wird, dass der Fehler im Leistungsverzeichnis der Korrektur bedurfte. Darüber hinaus bewege sich die Entscheidung, auf eine Aufhebung der Ausschreibung zu verzichten, absolut im rechtlichen Rahmen. Angesichts der Tatsache, dass die Aufhebung ohnehin das mildeste Mittel darstellt, sei die Vergabestelle sogar gehalten, gangbare Alternativen der Korrektur einer Ausschreibung zu prüfen. Dies funktioniert nach den Schlussfolgerungen des OLG auch in einem offenen Verfahren. Es handelt sich nach den Ausführungen des OLG nicht um verbotene Nachverhandlungen, wenn Teile des Leistungsverzeichnisses im Nachgang zur Submission von den Bietern neu verpreist werden dürfen. Vielmehr werde das Ausschreibungsverfahren partiell zurückversetzt, mit der Chance aller Bieter, auf Basis der gleichen Informationen die relevanten Positionen neu zu bepreisen. Insbesondere könne dies auch einschließen, dass sich die anbietenden Unternehmen völlig neue Nachunternehmer suchen, und dass sich daher der Kalkulationsansatz hinsichtlich dieser Positionen längst nicht nur in rein mengenmäßiger Hinsicht verändert. Im Übrigen wird einmal mehr auf die Gestaltungsfreiheit der öffentlichen Auftraggeber im Zusammenhang mit Leistungsbeschreibungen verwiesen. Ein Satz bedarf noch der besonderen Erwähnung: Auch das Einreichen der teilweise neuen Preise per E-Mail beim öffentlichen Auftraggeber ist nach dem Dafürhalten des OLG Düsseldorf nicht zu beanstanden. Es folgt der erklärende Satz:
„Elektronische Mitteilungen entsprechen auch im Vergaberecht inzwischen üblichen und zulässigen Kommunikationsformen.“
Die Konsequenz aus der grundsätzlichen vergaberechtlichen Zulässigkeit von Zweitkalkulationen einiger Leistungspositionen ist, dass sich die Bieterreihenfolge ändern kann. Insofern unterlägen alle Bieter den gleichen Bedingungen und besäßen auch darüber Kenntnis, dass die beiden Spitzenangebote lediglich 20.000,00 € auseinander gelegen haben. Die Erfüllung der notwendigen Transparenzerfordernisse wird man zumindest bei einer Ausschreibung nach VOB/A gelten lassen können. Es sei angemerkt, dass es fraglich ist, ob man diese Rechtsprechung auch auf Verfahren nach der VOL/A übertragen kann. Es ist dabei einerlei, dass die Bieter in einer Ausschreibung nach VOL/A die Preise ihrer Konkurrenten gerade nicht kennen. Ob dies allerdings das entscheidende Argument dafür sein kann, dass die gezeigte Rechtsprechung auf Vergabeverfahren nach der VOL/A nicht übertragbar ist, muss derzeit offen bleiben.
Der Düsseldorfer Vergabesenat nimmt in weiteren Ausführungen Stellung zu einem Beschluss des OLG Dresden (v. 23. 7. 2013, Verg 2/13). Der Dresdener Senat hatte sich intensiv mit der Frage beschäftigt, ob und in wieweit im Falle einer ausnahmsweisen Neukalkulation von einigen Positionen möglicherweise der gesamte Ausschreibungswettbewerb derartig tangiert ist, dass man im Ergebnis doch nur eine Aufhebung für richtig erachten kann. Der Rechtsgedanke des Dresdner Senates geht dabei in die Richtung, dass eine gewisse Geringfügigkeitsschwelle der relevanten Positionen in Bezug auf die gesamte Auftragssumme eingehalten werden müsse. In Sachsen geht man für diese Fälle von einer Geringfügigkeitsschwelle von 15% aus. Vereinfacht gesagt: Werden mehr als 15% der Gesamtleistung von den Bietern neu kalkuliert, dann werde der gesamte Ausschreibungswettbewerb buchstäblich „aus den Angeln gehoben“ und sei für ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren nicht mehr verwertbar. Das OLG Düsseldorf vermag dieser Dresdner Rechtsprechung nicht zu folgen. Dies schon deshalb, weil der Rheinische Senat bereits Schwierigkeiten darin sieht, auf welche Weise eine solche Geringfügigkeitsschwelle ermittelt werden könnte. Er erhebt die Frage, ob sich diese 15% auf die ursprüngliche Schätzung der Vergabestelle beziehen sollen, oder alternativ auf den Durchschnitt der eingereichten Angebote, oder wiederum alternativ auf das Bestangebot. Schon aufgrund dieser Schwierigkeiten verweigert sich das OLG Düsseldorf der Statuierung einer in Prozent ausgedrückten Geringfügigkeitsschwelle.
Allerdings ist es in den Fällen einer solchen teilweisen Zurückversetzung des Ausschreibungsverfahrens seitens des öffentlichen Auftraggebers zwingend im Rahmen einer wertenden Betrachtung zu ermitteln, inwieweit nicht möglicherweise die veränderte Kalkulation einzelner Positionen insgesamt das Preisgefüge des jeweiligen Bieters, und damit auch des Wettbewerbsgefüges unter allen Bietern insgesamt, ins Wanken bringt. Geht die Vermutung dahin, dass letztlich der gesamte Wettbewerb in Mitleidenschaft gezogen ist, so wird die Ermessensentscheidung letztlich nur in die Richtung gehen können, eine vollständige Aufhebung des Ausschreibungsverfahrens durchzuführen. Einmal mehr wird auch in diesem Zusammenhang die Entscheidungsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers betont. Speziell hebt der Düsseldorfer Senat hervor, dass an die Prüfungstiefe öffentlicher Auftraggeber diesbezüglich nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden dürfen.
Erstaunlich und letztlich wohl nur aus einer Kenntnis der vollständigen Aktenlage heraus zu beurteilen ist die finale Feststellung des OLG Düsseldorf, dass die beim Zuschlagsdestinär vorzufindende Preissenkung von circa 75%, welche dieser auf bezogen auf die sieben Positionen bei der Zweitkalkulation offeriert hatte, keine Unauskömmlichkeit des Angebotes hervorrufen sollen.
Auch bei der bereits in Teilen dargestellten Entscheidung des OLG Dresden ging es um ein EU-weites, offenes Verfahren zum Thema Verbauarbeiten. Dort standen 20 zu ändernde Positionen in Rede, die sich in ein Gesamtvolumen von 529 Leistungspositionen einfügten. Aus dem Beschlusstext lässt sich jedoch eine zurückhaltendere Einstellung des Sächsischen Vergabesenats herauslesen, was die Teilrückversetzung von öffentlichen Ausschreibungsverfahren anbelangt. Insbesondere wird zu Recht darauf verwiesen, dass die VOB/A
„die Möglichkeit einer Änderung des Ausschreibungsinhalts nicht und schon gar nicht nach Submission“
vorsieht. § 17 VOB/A eröffne lediglich den Weg der Aufhebung einer Ausschreibung. Allerdings gesteht der Dresdner Senat zu, dass es auch solche Aufhebungssituationen geben kann, die tatbestandlich nicht normiert sind. Bemerkenswert ist, dass der dortige Senat eine gewisse Reserviertheit zu der partiellen Rückversetzung der Ausschreibung erkennen lässt. Wohl aber basierend auf der Erkenntnis, dass man diese Möglichkeit zur partiellen Rückversetzung als milderes Mittel im Vergleich zur Aufhebung der Ausschreibung nicht abschneiden möchte, hat der Dresdner Senat im Jahre 2013 die bereits erwähnte Grenze der Geringfügigkeitsschwelle in Höhe von 15% ziehen wollen.
Fazit:
Der durch die Obergerichte aufgezeigte Weg einer Heilung durch partielle Rückversetzung des Verfahrens ist nach wie vor relativ neu. Es wird bei den Vergabestellen darauf ankommen, eine gute Dokumentationslage mit Widerspiegelung aller relevanten Erwägungen im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidungen herzustellen. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn eine gewisse Auflockerung des Vergaberechts auch in an sich formstrengen öffentlichen Ausschreibungsverfahren erfolgt. Es kann einer gewissen Pragmatik entsprechen, nicht zulassen zu wollen, dass uneingeschränkt große und hochvolumige Ausschreibungsverfahren an vernachlässigbaren Positionsgrößen scheitern. Insofern bildet der jetzt gefundene Weg eine durchaus interessante Alternative und auch ein Pendant dafür, wenn bestimmte Fehler oder Unvollständigkeiten im Leistungsverzeichnis nicht vor dem Zeitpunkt der Submission in der Anbietungsphase bemerkt werden. Es ist durchaus als Wertungswiderspruch anzusehen, wenn in der Anbietungsphase alle Möglichkeiten der Korrektur eines Leistungsverzeichnisses bestehen, und zwar auch dann, wenn die Fehler 2 Tage vor der Submission von einem Bieter bemerkt und gerügt werden, mit der Konsequenz, dass der Submissionstermin auch verschoben werden kann. Dass dies alles aber nicht mehr möglich sein soll, wenn die Submission stattgefunden hat und entweder die Vergabestelle oder die Bieter anhand der Submissionsergebnisse feststellen, dass die Angebote auf der Grundlage eines partiell unterschiedlichen Verständnisses der Vergabeunterlage erstellt wurden, ist schwer verständlich. Freilich muss bei der aufgezeigten neuen Vorgehensweise immer die Wechselwirkung der nachzukalkulierenden geänderten Leistungspositionen mit anderen Positionen beachtet werden. Ist dies der Fall, und spricht insgesamt eine Vermutung dafür, dass der Wettbewerb „schief“ ist, weil die Gesamtkalkulation eine andere wäre und gegebenenfalls sogar der Bieterkreis ein partiell anderer, so wird man im Ergebnis um eine Aufhebung der Ausschreibung nicht herumkommen.